Vorschußl.

Eine Comödiantengeschichte von Teo von Torn.
in: „Leipziger Tageblatt” vom 27.02.1900,
in: „Agramer Zeitung” vom 21.03.1900,
in: „Indiana Tribüne” vom 29.04.1900


„Na, Strebel, was giebt's schon wieder?” fragte der Director, indem er vom Repertoirezettel aufsah und den Eingetretenen halb mißtrauisch, halb belustigt fixirte.

Emmerich Strebel entledigte sich mit runden , fast pathetischen Bewegungen seiner, einstmals wohl rothbraunen Glacés, aus denen sämmtliche zehn Fingerspitzen hervorlugten, fuhr sich mit einer großartigen Geste durch das lange, graue Haar und fragte im Tone eines Menschen, der sich der Bedeutung seines Anliegens bewußt ist:

„Darf ich mich setzen, Director?”

„Setzen Sie sich, — Strebel, — aber — —”

„Kein „aber”, lieber Director, erstensmal wissen Sie noch gar nicht, worum es sich handelt, und wenn Sie es wissen , so —”

Strebel unterbrach sich. Der Director hatte dem abschreckend häßlichen Pinscher, der den „komischen Vater” des Ensembles auf Schritt und Tritt — wiederholt sogar Abends auf der Bühne — begleitete, einen Fußtritt versetzt, so daß der Köter aufheulend und mit eingekniffenem Schwanz sich unter den Stuhl seines Herrn flüchtete.

Letzterer warf mit einer ihm eigenen raschen Bewegung seine ewig widerspenstige Zornlocke aus der Stirn und brummte in tiefer, verhaltener Empörung:

„Aber, lieber Director — —”

„Ach was,” rief der Bühnengewaltige ärgerlich, „ich hab' das Beest im Magen! Vorgestern ist die Mättling bei ihrem schönsten Auftritt so drüber hingeschlagen, daß sie bis an die Rampe trudelte, gestern frißt die Töle die für das Souper im letzten Act unentbehrliche Schlackwurst, so daß Ihr vor leeren Tellern spielen mußtet, und eben wollte sie mir wieder in der Rollenkiste ihre Visitenkarte abgeben! Das paßt mir nicht mehr, Strebel. Entweder schaffen Sie das Vieh ab oder —”

Während dieser Anklagerede hatte der alte Schauspieler sich tief gebückt und den Hund zärtlich getätschelt, als wollte er jedes der harten Worte durch eine Liebkosung gut machen. Bei der drohenden Schluß-Alternative zog er ihn am Halsband hervor und stellte ihn vor dem Director auf.

Ordentlich verzückt schaute er auf das häßliche Thier nieder und sprach zu ihm tändelnd und innig, wie zu einem kleinen Kinde:

„Wollen Sie Dir Alle was, mein Vorschußl, mein süßes —”

Das Vieh mit dem seltsamen Namen nieste, wand sich erfreut hin und her und wollte sich eben unter der liebkosenden Hand seines Herrn auf den Rücken legen, als Strebel plötzlich mit erhobenem Zeigefinger und hochgezogenen Augenbrauen ihm zuraunte:

„Wie mag's Hunderl den Rigesseur?[sic! D.Hrsgb.]”

Der zu dieser Augendienerei abgerichtete Köter wedelte mit dem Schwanz, kläffte freudig erregt und leckte sich huldigend die Schnauze.

Strebel sah seinen Director triumphirend an, und da er um die blaurasirte Lippenpartie des Gestrengen ein flüchtiges Lächeln zu sehen wähnte, ging er aufs Ganze:

„Na, und wie bittet Vorschußl um — seinen Namen?”

Der Hund machte à tempo schön und angelte bittend mit beiden Vorderpfoten in der Luft herum.

„Darauf kommt es also wieder hinaus, Strebel, nicht wahr?” fragte der Director, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und die Hände resignirt über dem kleinen Spitzbauch faltete.

Strebel richtete sich aus einer nachdenklichen Verzückung ob der Intelligenz seines vierbeinigen Freundes jäh auf, warf die Locke aus der Stirn und rieb sich, verlegen schmunzelnd, die Stoppeln.

„Im Grunde ja, Director —, aber es ist diesmal 'was besonders Wichtiges, Unumgängliches.”

„Das war's gestern auch, und vorgestern ebenfalls. Immer.”

Strebel wiegte das mächtige, graue Haupt und lächelte überlegen.

„Alles nichts gegen heute, Director —”

Der „Komische” war ein unerreichtes Genie im Erfinden von Vorschuß-Anlässen; daher zeigte der Director nicht das leiseste Interesse daran, das „Allerneueste” zu erfahren. Der Alte stand bereits mit mehr als zwei Monatsgagen bei ihm zu Buch, und da er den völlig talentlosen Routinier, der ihm nicht nur durch den aufdringlichen Hund, sondern auch durch gewisse „alltägliche Quartalspassionen” manche Vorstellung störte, am nächsten Ersten zu kündigen beabsichtigte, so war er entschlossen, nichts mehr herzugeben. Selbst die minimalsten Summen nicht, mit denen Strebel sich nur noch herauswagte.

„Thut mir leid; ich gebe nichts mehr.”

„Aber ich muß die eine Mark fünfzig haben, Director, ich muß —”

Der Director zuckte die Achseln.

„Andernfalls kann ich heute einfach nicht auftreten,” ergänzte Strebel mit siegessicherem Aufblick.

„Wieso —”

„Ich hab's wieder in der Luftröhre,” heiserte Strebel mit einer flüchtigen Bewegung nach seiner Kehle, wo ein kolossal entwickelter Adamsapfel sich an dem zweifelhaften Hemdkragen scheuerte.

„Und da müssen Sie wohl wieder schmieren, he?” höhnte der geärgerte Bühnenleiter.

Der Andere machte ein Gesicht, als wenn ihn Jemand für fähig erklärt hätte, eine Locomotive zu stehlen. Er zuckte indignirt die Achseln, pfiff beiläufig nach Vorschußl, der schon wieder an der Rollenkiste herumschnubberte, und sagte dann:

„Ich brauche das Geld, um mir Asthma-Cigaretten zu kaufen.”

„So, so —” erwiderte der Director nach einer kleinen Pause, die er dazu benutzte, um sich aus der aufkeimenden Heiterkeit wieder zu entschlossenem Ernst durchzuringen. „Ich will Ihnen nur was sagen, Strebel, so geht das wirklich nicht weiter. Daß Sie nichts leisten, wissen Sie selbst. Dazu alle Nas' lang bezecht, jeden Tag Vorschuß und die infame Töle obendrein. Ob Sie es jetzt erfahren oder am nächsten Gagetag: ich muß Sie kündigen, Strebel.”

Das verschminkte Gesicht des „komischen Vaters” wurde noch um eine Nüance[sic! D. Hrsgb.] grauer. Mit einer müden, aber trotzdem noch pathetischen Bewegung seiner knochigen, fast bis auf die Fingergelenke behaarten Hand strich er die Lockensträhne aus der Stirn und sah den Chef unsicher, mit verschwommenem Blick an.

„Ist das Ihr Ernst?”

„Ja. So leid es mir thut, es muß sein.”

Strebel seufzte auf und saß einen Augenblick, die Hände schlaff auf den blankgescheuerten Knien seiner Kammgarnhose, in Trübsinn und Nachdenken versunken. Dann hob er den Kopf, neigte ihn lächelnd auf die Seite und sagte, so flötend zärtlich fast wie vorhin zu seinem Hunde:

„— Und die Einsfünfzig —”

„Bedauere.”

Emmerich Strebel wurde ernst, sehr ernst. Um seine schmalen, in den Winkeln von krausen Fältchen umzogenen Lippen zuckte Verachtung. Er erhob sich wortlos, ließ seine zehn Finger aus den zerrissenen Handschuhen Guckguck machen, verbeugte sich und verließ mit seinem Hunde das Bureau des Unerbittlichen.

Dieser aber hatte seine Arbeit kaum wieder aufgenommen, als die Thür ein wenig geöffnet wurde — gerade so weit, daß Vorschußl hineinschlüpfen konnte. Einer unhörbaren Weisung gehorchend, setzte er sich auf die Hinterbeine — und angelte nach seinem Namen.

Leider hatte Strebel in blinder Ueberschätzung von Vorschußl's Unwiderstehlichkeit das denkbar unpraktischste Mittel gewählt, seinen Director zu erweichen. Diesem that der Alte, nachdem er das Bureau verlassen, doch leid, und er hätte ihm die „Einsfünfzig” möglicherweise doch noch gegeben, ja ihn vielleicht noch auf einige Zeit behalten, wenn Jener selbst noch einmal gekommen wäre. Aber nun das „Beest”?

Der Director griff nach einem schweren Gegenstande — eine Bewegung, die Vorschußl mit gespitzten Ohren und runden, aufmerksamen Augen beobachtete. Er kannte solche Bewegungen als durchaus ungesund für ihn. Einen Moment war er im Zweifel und setzte die angelnden Pfoten abwartend in Ruhe. Als der Director aber den gußeisernen Briefbeschwerer mächtig ausholend emporhob, begriff er das beabsichtigte Attentat auf seine exponirte Magengegend und schoß wie der Blitz durch die immer noch geöffnete Thür.

Letztere wurde nun wuchtig zugeschlagen.

Emmerich Strebel hatte abgeschlossen mit seinem Director.

Keine Mancht der Welt hätte ihn bewegen können, in die Komödie zu gehen. Während der Director, unter Gift und Galle auf seinen „komischen Vater”, des lüderlichen Leopold zärtlichen Papa höchstselbst verzapfte, saß Strebel beim Lammwirth, an der äußersten Peripherie der Stadt. Die einzige Kneipe, wo man ihm noch borgte.

Aber der Schnaps vermochte heute nicht, ihn aufzuheitern. Wie war er auch nur darauf gekommen, dieses ganze verfehlte Dasein zu recapituliren. Das war sonst nicht seine Art. Hatte er seinen Vorschuß weg, so — — ganz recht, das war's! Der Vorschuß. Daß ihm der nicht geworden war!

Er hatte sich an Alles gewöhnt mit der Zeit. Als ihm vor zweiundvierzig Jahren sein erster Director den Rath gegeben, noch drei Jahre zu studiren, sich einen neuen Schminkkasten anzuschaffen und dann abzugehen von der Bühne — da war's ihm wohl hart angekommen. Aber er hatte sich peu à peu daran gewöhnt, keinen Egmont zu spielen zu bekommen, keinen Mortimer u.s.w., wie er das so heiß ersehnt, als er noch Lakritzen einstaniolte bei Vatern, und seine einzige erlaubte Lectüre das Lesen von Kaffeebohnen war.

Er hatte sich an die ihm zugewiesene Kunstbethätigung gewöhnt — unter dem Druck der Thatsache, daß seine Leistungen oft selbst jenen „Meerschweinchen” nicht genügten, deren Abendcasse nach Käse roch. Einige hübsche Erfolge hatte er ja gehabt. Seine Betonung der Verse, die der eine Bürger im „Faust” beim Spaziergang zu sprechen hat, werden ihm in der ganzen Theaterwelt nachcitirt — hinter den Coulissen allerdings nur:

„Nein! Er gefällt mir! — Nicht? — der neue Bürgermeister — —”

Und dergleichen mehr. Aber er war doch, und zwar schneller, viel schneller als tausend Andere, zu der Einsicht gekommen, daß die flammende Begeisterung von damals ihm ein Irrlicht gewesen. —

Er wußte das und hatte sich daran gewöhnt. Jedoch — von der „Kunst” lassen? Nicht um die Welt! Er liebte dieses Leben, das ihn nominell wenigstens zu Dem rechnete, was er hatte werden wollen. Wenn ihm nur zwei Spießer in der Kneipe zuhörten, so war er glücklich — ein König.

Und vor Allem; der Vorschuß! Sie heischten und erhielten Alle Vorschuß, die kleinen und die großen Künstler. Alle! Solange er Vorschuß erhielt, war er auch ein Künstler, einer der Ihrigen. Solange ihm noch der Diskont des Glaubens ward an irgend eine Leistung von ihm, hatte er selbst noch einigen Glauben. Er brauchte das Vorschußnehmen —nicht blos um der lumpigen paar Groschen, die er den Kunstpächtern abrang; dieses Ringen an sich, das raffinirte planmäßige Vorbereiten der Anbahnung, die immer neuen Ideen, das Hangen und Bangen vorher, der Sieg am Ende, waren ihm Lebensbedürfniß und — Kunstbethätigung.

Das war nun aus, gründlich aus. Wenn er dieses Engagement verlor, würde er keins mehr finden, das hatte der Agent ihm unzweideutig zu verstehen gegeben.

Er erhob sich schwerfällig. Vorschußl, der die ganze Zeit vor ihm gesessen und ihn unverwandt angeschaut hatte, maukste und bellte vor Freuden auf.

„Na, Herr Strebel, wollen Sie schon gehen?” fragte der Wirth mit süßsaurem Gesicht, indem er auf die Thür des Bretschranks hinter der Tonbank einige Hieroglyphen zu den bereits vorhandenen malte.

„Jawohl, lieber Mann,” erwiderte der Alte, indem er die Locke energisch zurückwarf und seinen schmierigen Kalabreser langsam und feierlich mit beiden Händen wie ein Diadem sich aufs Haupt setzte, „ich habe noch zu thun — letzter Act, letzte Scene . . . .”

*           *           *

Am anderen Morgen, in aller Herrgottsfrühe, scharrte Emmerich Strebel's Pinscher wie toll an des Directors Thür. Naß, beschmutzt und mit hechelnder Zunge. Eingelassen, schnüffelte er aufheulend in allen Ecken umher. Dann raste er wieder zur Thür. Und da man ihm nicht gleich öffnete, setzte er sich auf die Hinterpfoten und bat winselnd Vorschuß . . . .

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